Interview Sylvia Hofinger mit Chemiereport über Auswirkungen der Pandemie

13.05.2020 | "Wir werden dringend gebraucht"

Sylvia Hofinger, Geschäftsführerin des Fachverbands der Chemischen Industrie Österreichs (FCIO), im Interview mit chemiereport.at über die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Branche

CR: Was sind die gravierendsten Herausforderungen für die chemische Industrie durch die Corona-Pandemie?

In der aktuellen Krisensituation zeigt sich, wie sehr wir die chemische Industrie brauchen, etwa bei der Erforschung von Impfungen und Medikamenten, bei der Produktion von Desinfektionsmitteln und gerade auch bei hygienischen Verpackungen für Lebensmittel. Ohne die Lösungskompetenz der chemischen Industrie könnten wir die momentan zentralen Herausforderungen nicht bewältigen. Für die Branche gilt es nun, die Herstellung all dieser Produkte auf höchstem Niveau aufrecht zu halten, trotz teilweise großer Schwierigkeiten in den Lieferketten und im Transportbereich. Auch wenn sie nicht so sehr im Fokus der Öffentlichkeit stehen, so gebührt auch unseren Unternehmen und ihren Mitarbeitern großer Dank für ihren großartigen Einsatz.

 

CR: Hatte die Corona-Pandemie bereits nennenswerte Auswirkungen auf die Produktionsvolumina der Chemischen Industrie? Welche Sparten waren bzw. sind besonders betroffen?

Die chemische Industrie deckt ein breites Spektrum unterschiedlicher Produktionsbereiche ab. Dementsprechend sind die Auswirkungen auch sehr verschieden. Unternehmen, die mit dem Gesundheitssektor verbunden sind, wie etwa die Pharmaindustrie, sind voll ausgelastet, um die Nachfrage nach ihren Produkten zu befriedigen. Auch Kunststoffverpackungen sind aus Hygiene- und Haltbarkeitsgründen derzeit stark gefragt. Betriebe in der Zulieferindustrie der Automobilbranche hingegen leiden unter dem Rückgang der Kraftfahrzeugsproduktion, auch die baunahen Branchen sind stärker betroffen. Die weiteren Auswirkungen sind jedoch derzeit nur sehr schwer abschätzbar.

 

CR: Ist nach den Erfahrungen der Chemischen Industrie der ungehinderte grenzüberschreitende Güterverkehr gewährleistet? Die EU-Kommission hat ja diesbezügliche Initiativen gesetzt, Stichwort „Green Lane Border Crossings“ mit einer maximalen Abfertigungsdauer von 15 Minuten an den betreffenden Grenzübergängen. Hatte das die intendierten Auswirkungen?

Die grenzüberschreitende Logistik innerhalb der Europäischen Union könnte besser laufen. Die unterschiedlichen Grenzkontrollen verlangsamen häufig dringend benötigte Lieferungen. Ein größer werdendes Problem sehen wir auch bei der Verfügbarkeit von LKW-Fahrern. Das führt auch zu höheren Kosten.

 

CR: Nach Angaben des deutschen Bundesverbandes Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik sind vor allem Lieferverzögerungen und nicht so sehr vollständige Lieferausfälle das Problem der Industrie. Trifft dies auch auf die österreichische Chemiebranche zu?

Lieferverzögerungen sind ein globales Problem. Wenn an nur einem Punkt in der Lieferkette die Produktion stoppt, ist der komplette Lieferprozess unterbrochen. Das ist insbesondere in den Bereichen ein Problem, wo Rohstoffe oder Zwischenprodukte zum überwiegenden Teil aus einem Land oder einer Region kommen. Im Pharmabereich haben wir etwa die Situation, dass 80 Prozent der Rohstoffe für Arzneimittel aus China kommen. Alternative Lieferketten in kurzer Zeit aufzubauen, ist sehr schwierig. Und wenn es Möglichkeiten gibt, erhöhen sich die Kosten dafür deutlich. In der aktuellen Situation sind wir aber in der glücklichen Lage, dass die Lager in Österreich noch gut gefüllt sind.

 

CR: Wie sieht es mit der Versorgung der Branche sowie der Industrie insgesamt mit Basischemikalien aus? Gibt es Engpässe bzw. sind Engpässe zu befürchten? Falls ja, welche Substanzen betreffen diese?

Aktuell sehen wir in der chemischen Industrie in Europa noch keine größeren Probleme. Die Lager sind für die kommenden Monate gut gefüllt, auch wenn es aktuell bei einzelnen Stoffen wie Isopropanol, das als Wirkstoff für Desinfektionsmittel und als Lösungsmittel verwendet wird, tatsächlich einen EU-weiten Engpass gibt. Durch den Einsatz und Erfindungsreichtum der Chemiebranche konnte dieses Problem abgemildert werden, indem man Ethanol als Substitutionsmittel eingesetzt hat.

 

CR: Gibt es Basischemikalien, bei denen sich Österreich ohne Importe versorgen kann?

Bei der Suche nach Basischemikalien, etwa für die Herstellung von Desinfektionsmitteln nach den Standards der WHO, hat sich gezeigt, dass die notwendigen Basischemikalien Ethanol, Glycerin und Wasserstoffperoxid allesamt in Österreich hergestellt werden.

 

CR: Im Hinblick auf die Zeit nach der Pandemie werden immer wieder Forderungen nach einer stärkeren Regionalisierung der Wirtschaft laut. Was hält der FCIO von derartigen Wünschen?

Im Kern steht die Verfügbarkeit wichtiger Produkte, etwa in der Gesundheitsversorgung. Wir müssen, basierend auf den jetzigen Erfahrungen, darüber diskutieren, wie wir eine Diversifikation von Lieferketten organisieren können und wie man die hochgradige Konzentration der Produktion bestimmter Waren in nur einem oder wenigen Ländern vermeiden kann. Dazu gehört selbstverständlich auch eine Stärkung der Produktion in Österreich, wo immer das möglich und strategisch sinnvoll ist. Hier werden wir uns als Gesellschaft auch schmerzhafte Wahrheiten vor Augen führen müssen, etwa, dass Spitzenmedikamente zum Preis von Kaugummis nicht in Österreich produzierbar sind. Zur Standortpolitik gehört auch eine Vergütung, die es heimischen Unternehmen erlaubt, mit hier üblichen Lohn- und Produktionskosten zu produzieren. Hier ist viel möglich. Es wäre aber eine Illusion, zu glauben, dass Österreich sich mit allen Produkten selbst versorgen kann. Gerade eine kleine, exportorientierte Volkswirtschaft wie Österreich braucht Internationalisierung

 

CR: In Deutschland fordert der VCI, die Chemie- und Pharmaindustrie als „systemrelevant“ einzustufen. Laut einer Aussendung des Verbands würde das dem Bundesministerium für Gesundheit unter anderem erlauben, „durch Rechtsverordnung verschiedene Maßnahmen anzuordnen. Dazu gehören auch Maßnahmen zur Sicherstellung der Versorgung mit Arzneimitteln einschließlich Betäubungsmitteln, der Wirk-, Ausgangs- und Hilfsstoffe dafür, mit Medizinprodukten, Labordiagnostik, Hilfsmitteln sowie mit Gegenständen der persönlichen Schutzausrüstung und Produkten zur Desinfektion“. Wäre eine solche Einstufung der Branche bzw. eine solche Regelung auch in Österreich wünschenswert?

Österreich hat hier mit dem sogenannten „operator based approach“ eine andere Strategie gewählt und Firmen und nicht Sektoren als Teil der kritischen Infrastruktur ausgewählt. Was die derzeitigen Beschränkungen betrifft, so ist die Produktion davon generell ausgenommen, was wir für absolut wichtig und richtig halten.

 

CR: Österreich verzeichnet derzeit rund 560.000 Arbeitslose, um fast 200.000 mehr als vor der Corona-Pandemie. Hat es in der Chemieindustrie bereits Kündigungen in signifikantem Ausmaß gegeben? Welche Sparten waren besonders betroffen?

Bisher konnte dies zum Glück vermieden werden. Generell wird in der österreichischen Chemieindustrie mehr daran gearbeitet, Schichtarbeitsmodelle so zu gestalten, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die unermüdlich im Einsatz sind, bestmöglich geschützt sind und die Produktion aufrecht erhalten werden kann.

 

CR: Inwiefern nutzen die Mitglieder des FCIO die Möglichkeit der Kurzarbeit?

Kurzarbeit wird von einigen Betrieben genützt, vor allem in den bereits angesprochenen Bereichen, die schwerer betroffen sind und zum Teil auch im Außendienst

 

CR: Um Mittel aus dem Nothilfefonds zu erhalten, müssen Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten die „Corona-Kurzarbeit“ nutzen und dürfen niemanden kündigen. Wie beurteilt das der FCIO?

Die Kurzarbeit ist ein gutes Modell um die österreichische Wirtschaft durch die Krise zu bringen. Die österreichische Bundesregierung hat gemeinsam mit den Sozialpartnern ein Modell auf den Weg gebracht, das sowohl Arbeitgebern als auch Arbeitnehmern hilft, flexibel mit der aktuellen Situation umzugehen.

 

CR: Weiters muss, wer den Nothilfefonds in Anspruch nimmt, die Managerboni halbieren und darf keine Dividenden auszahlen. Wie kommentiert dies der FCIO?

Auch diese Regelung ist in Anbetracht der schwierigen wirtschaftlichen Situation für uns nachvollziehbar.

 

CR: Wie wird das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes am Arbeitsort in den unterschiedlichen Sparten der Chemischen Industrie gehandhabt? Wie sieht es mit der Einhaltung der Abstandsvorschriften aus? Gibt es Sparten, wo dies aus produktionstechnischen Gründen schwierig ist? Wie gehen die betreffenden Unternehmen damit um?

Die Unternehmen der chemischen Industrie in Österreich sind es gewohnt, mit strengen Arbeitnehmerschutzbestimmungen umzugehen. Hohe Sicherheitsvorkehrungen in der Produktion sind in den Unternehmen Standard und selbstverständlich halten sich unsere Betriebe gerade jetzt an alle relevanten Vorschriften.

 

CR: Was bedeuten die durch COVID-19 bedingten Einschränkungen im Schulbetrieb für den „Personalnachschub“ für die chemische Industrie?

Der Fachkräftemangel in der chemischen Industrie ist durch die Corona-Krise natürlich nicht geringer geworden. In bestimmten Bereichen wie in der Pharmabranche werden Lehrlinge auch von der Schulpflicht befreit, um in den Betrieben mithelfen zu können. Es wird in Zukunft weiterhin darauf ankommen, mehr junge Menschen für Berufe in der chemischen Industrie zu begeistern. Möglicherweise bewirkt die aktuelle Krise ja eine Zunahme an Interessierten, da man auch medial mitbekommt, wie wichtig etwa die Chemie für unsere Gesellschaft ist.

 

CR: Grundsätzlich können auch in Österreich Zwangslizenzen für Patente auf Arzneimittel erteilt werden. Hätte das im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie Sinn?

Die davon möglichen betroffenen Therapien sind aktuell noch im Forschungsstadium. Wichtig ist heute, dass wir möglichst schnell wirksame Medikamente und Impfstoffe gegen COVID-19 entwickeln und dabei gleichzeitig die Sicherheit der Patienten bei der zukünftigen Einnahme gewährleisten können.

 

CR: Bundeskanzler Kurz sagte mehrmals, es werde Beschränkungen von Reisen ins Ausland geben, bis ein Impfstoff gegen das SARS-CoV-2-Virus verfügbar ist. Das dürfte nach Aussagen von Experten frühestens in 18 Monaten der Fall sein. Was heißt das für die Chemieindustrie, beispielsweise, was Dienstreisen betrifft, beispielsweise, was die Teilnahme von Unternehmen an internationalen Messen und dergleichen betrifft?

Eines zeigt die Krise deutlich: IT-Dienstleistungen werden in Zukunft viel stärker in Anspruch genommen werden als zuvor. Was Dienstreisen betrifft, wird es unabhängig von Beschränkungen auf jeden Fall einen deutlichen Rückgang geben. Natürlich können aber Videokonferenzen nicht zur Gänze persönliche Treffen ersetzen oder Messen überflüssig machen. Da entsteht zweifellos eine Lücke, bis wir wieder zur Normalität zurückkehren können. Bis dahin arrangieren sich die Firmen so gut es geht und nutzen alle technischen Möglichkeiten, um diese Lücke so klein wie möglich zu halten.

 

CR: Vor der Corona-Pandemie plante die Bundesregierung, ab 2022 eine CO2-Bepreisung einzuführen. Sollte sie diese Pläne verschieben?

Jetzt steht einmal die Überwindung der Krise im Vordergrund. Die Zeit für Normalität ist noch nicht gekommen. Erst müssen die Schäden, die durch das Corona-Virus entstanden sind und noch entstehen werden, behoben werden. Wir stehen hier vor immensen Herausforderungen, um unser gewohntes Alltagsleben und die Wirtschaft wieder in Gang bringen zu können. Welche Anstrengungen es dafür braucht, ist derzeit einfach noch nicht abschätzbar.


Quelle: Chemiereport.at (Print) | 05.05.2020 | Seite: 26-28

 

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